Es ist kompliziert

Es ist kompliziert
Journalisten, die die gleichen Fehler immer wieder machen und gar nicht anders können bzw. wollen. (Yes, I am looking at you, Focus!) Gatekeeping in Zeiten von Live-Videos. Wenn der Kopp-Verlag vom Mossad fantasiert. Sigmund Gottlieb, wie er leibt, lebt und R.T. Erdogan interviewt. Auch unter Klarnamen trollt es sich gut.

Einen Tag nach der großen München-Medien-Analyse können wir es kurz machen:

„Wir können nicht schweigen, während die Zugriffe auf alle Nachrichtenwebsites sprunghaft ansteigen, weil Leser dort nach valideren Informationen suchen – nur, weil auch wir diese Informationen noch nicht besitzen. Das wäre bigott. Die Möglichkeit, sofort berichten zu können, schließt die Verpflichtung ein, es zu tun. (...)

Dies ist die Paradoxie, die alle anderen umfasst: dass wir um viele unserer Fehler wissen, und sie doch täglich neu begehen, weil sie unvermeidbar sind oder uns so scheinen“,

schreibt bei Zeit Online dessen Chef Jochen Wegner.

An dieser Stelle und mit diesen Sätzen können wir alle Medienkritik für immer ad acta legen. Denn was braucht man sie noch, wenn Journalisten längst wissen, was falsch läuft, aber durch äußere Faktoren immer wieder dazu gezwungen werden?

-> Es ist kompliziert. Deal with it. <-

Das nächste Altpapier erscheint nie.

 

 

 

Kleiner Scherz. Denn auch wenn, worauf Wegner abzielt, bei der Berichterstattung in Ausnahmesituationen immer wieder Fehler passieren werden, die man erst später als vermeidbar erkennt, gibt es doch ebenso viele, die in vollem Bewusstsein, mit Absicht geschehen, und die als unumgänglich zu akzeptieren natürlich nicht in Frage kommt.

Nehmen wir zum Beispiel den Titel des extra aktualisierten, heute erscheinenden Magazin namens Focus – oder besser: Lesen wir erst den Kommentar von Ronen Steinke auf der Meinungsseite der SZ:

„Aus Sicht der Täter geht es nicht in erster Linie darum, bestimmte Individuen zu verletzen. Die Auswahl der Opfer ist oft zufällig. Wichtiger ist, dass der Täter etwas in den Köpfen derer auslösen will, die gar nicht dabei waren: Menschen, die von der Tat nur im Netz oder in der Zeitung lesen. Was dort zu lesen ist, hängt natürlich nicht vom Täter selbst ab, sondern es ist die getroffene, trauernde, aufgewühlte Gesellschaft, die dort agiert. So ohnmächtig, wie sich viele Bürger fühlen, sind sie deshalb oft gar nicht. Wer twittert, Artikel oder Facebook-Postings schreibt, ist nicht nur Zuschauer, sondern ein sehr bedeutender Teil des Geschehens. Im Schlechten oder im Guten“,

schreibt Steinke. Und weiter:

„Sinnlos bleiben solche Verbrechen immer – zumindest in dem Sinne, dass sie keines der von den Tätern behaupteten Probleme lindern werden. Aber erst wenn die getroffene Gesellschaft aufhört, das Ego der Mörder ernst zu nehmen, morden sie auch aus deren Sicht vergeblich.“

Damit zum Focus, der auf seinem Titel den Amok-Schützen auf dem Dach des Parkhauses zeigt und ihn im Innenteil in einer Reihe mit den Tätern von Erfurt, Winnenden und Utøya zeigt (Blendle-Link). Womit das vermeintliche Nachrichtenmagazin Ali David S. genau dort einen Platz in der Geschichte einräumt, wo dieser ihn für sich gesehen hat.

Und das, obwohl, um aus der gestrigen FAZ zu zitieren, so eine Aufmerksamkeit offenbar Nachahmer anspricht.

„Die Faszination für solch grausame Taten war also schon vorhanden. Doch der konkrete Plan reifte, so ist es in den Tagebucheinträgen nachzuverfolgen, nach Winnenden. In der öffentlichen Urteilsverkündung im April 2010 las der Richter Auszüge aus dem Tagebuch vor. In einem Abschnitt hatte der spätere Täter geschrieben, dass über einen einfachen Selbstmord in den Medien nicht berichtet werde. Doch durch eine solche Tat ließen die Medien den Täter als Held sterben. Da wurde in den ersten Reihen, den dicht gefüllten Reihen der Medienvertreter, gelacht“,

berichtet Judith Brosel, deren Klassenkamerad im Nachgang zu Winnenden mit einer Axt und Molotowcocktails durch ein Ansbacher Gymnasium zog.

Obwohl bereits am Sonntag mit der Berliner B.Z. ein Boulevardblatt auf den Markt gekommen ist, das auf seiner ersten Seite ein weißes Loch zur Schlagzeile „Dein Foto kommt nicht auf unseren Titel“ präsentierte, was Chefredakteur Peter Huth bei Meedia wie folgt erklärt:

„Wir dürfen nicht vergessen, dass eine Schlagzeile mit ihrer Prominenz und Wucht automatisch auch eine Ikonisierung bedeutet. Die Diskussion um Nachahmer ist bekannt und gerade in diesem Fall extrem wichtig – denn der Täter orientierte sich eindeutig an anderen Amokläufern. Sie waren seine Helden.“

(Ja, davon muss man das Kalkül abziehen, nach einem solchen Titel eben extra von Meedia angefragt und gelobt zu werden. Aber das Argument wird dadurch nicht falsch.)

Obwohl dieser heute erscheinende Focus eben nicht live am Freitagabend produziert wurde, sondern zu einem Zeitpunkt, als der Staub sich gelegt hatte.

Das Magazin hätte das Ego des Mörders mitdenken müssen, ebenso wie die Bild am Sonntag die Rechte der Opfer, als die Zeitung sich für ihr Titelfoto für diese entschied, worüber mittlerweile Beschwerden beim Presserat vorliegen (Quelle: Meedia). Was zu den Automatismen im Nachgang solcher Ereignisse gehört, denn das Veröffentlichen von Opfer-Fotos durch Bild-Zeitungen (und Zeitungen mit Bildern auf dem Cover, etwa den "Stoppt-Putin-jetzt"-Spiegel) und das spätere Rügen durch den Presserat hat Tradition.

Auch hier gilt Wegners „dass wir um viele unserer Fehler wissen, und sie doch täglich neu begehen“. Anders als, würde ich jetzt mal wohlmeinend unterstellen, Zeit Online begehen diverse Medien diese jedoch bewusst, um zu den Schnellsten, den Meistverkauften, den Diskutiertesten zu gehören.

Ja, es ist kompliziert. Aber manches ist trotzdem falsch.

[+++] Tatsächlich kompliziert und neue Herausforderung hingegen:

„Laut einer Befragung führender Medienunternehmen in 25 Ländern durch das Reuters Institute for the Study of Journalism bewegt sich bei Livestreams und Bots 2016 viel. Jedenfalls technisch und ökonomisch. Ethisch hinken wir gewaltig hinterher. (...)

Indem Algorithmen zunehmend die Meinungsbildung prägen, bewirken sie einen algorithmischen Strukturwandel der Öffentlichkeit. Wir müssen die Fäden in der Hand behalten; wieder gilt: Kein Roboter entlässt uns aus der Verantwortung“,

schreibt Marlis Prinzing, Professorin für Journalistik an der Kölner Macromedia-Hochschule, im österreichischen Standard.

Die NZZ hat sich derweil auf die Suche nach Twitterern begeben, die am Freitagabend bewusst Falschmeldungen in die Welt setzten, und ist auf Hardcore-Trump-Fans gestoßen.

Diese Kombination aus Fake mit Absicht und Algorithmus ist echt unheimlich, und wem das noch nicht reicht, der liest nach, wie sich der Kopp-Verlag erklärt, dass Richard Gutjahr sowohl in Nizza als auch in München vor Ort war.

[+++] Zum Runterkommen schnell noch ein Blick auf eine dagegen geradezu schnuckelig wirkende Debatte – DJV-Chef Frank Überall im Gespräch mit Bülend Ürük bei kress.de:

„Der Auftrag für Phoenix sollte in der Tat neu justiert werden. Die Erwartungshaltung an einen ,Dokumentations- und Ereigniskanal’ ist heute völlig anders als in der Gründungsphase von Phoenix vor vielen Jahren. (...) Man muss nicht jede Aufgeregtheit abbilden, man darf Gewalttätern kein allzu großes Forum bieten - aber professionelle Berichterstattung und Einordnung muss schnell und nachhaltig sein. Das kann und sollte man im Auftrag für Phoenix durchaus präzisieren - und dann natürlich auch die entsprechenden Ressourcen dafür zur Verfügung stellen.“

Die Antwort, warum das einfacher gesagt als getan ist, liefert Hans Hoff auf der SZ-Medienseite:

„Sowohl für Phoenix als auch für Tagesschau 24 und ZDFInfo, den ,Informationskanal mit Schwerpunkt auf Dokumentationen und Reportagen’, ist in diversen Staatsverträgen ausdrücklich festgelegt, dass diese Sender keinesfalls Rund-um-die-Uhr-Nachrichtenkanäle sein dürfen. (...)

Der Weg zu einem öffentlich-rechtlichen Nachrichtenkanal ist also steinig, und der größte Fels liegt bei der ARD quasi auf dem Flur. Käme ein solcher Sender, würde die Konzentrierung von Kräften und Finanzen das föderale System der ARD gehörig durcheinanderwirbeln. Eifersüchtig wird schon jetzt in den Anstalten darauf geachtet, dass ja nicht zu viel Informationskompetenz und Geld in den Verbund abfließt, dass also nicht die Macht von Intendanten und Chefredakteuren in den einzelnen Ländern geschmälert wird.“

Auch wenn uns die Welt derzeit aus den Fugen erscheint: So weit, das föderale System der ARD gehörig durcheinander zu wirbeln, ist es noch nicht.


Altpapierkorb

+++ In der Türkei wurden im Nachgang des Putschversuches nun auch Haftbefehle gegen 42 Journalisten erlassen. „Wie die Fernsehsender NTV und CNN-Türk am Montag berichteten, ist unter den 42 Beschuldigten die bekannte Journalistin Nazlı Ilıcak, die 2013 wegen kritischer Berichterstattung über einen Korruptionsskandal von der regierungsnahen Zeitung Sabah entlassen worden war“, heißt es im AFP-Bericht bei taz.de. „Die Liste ist bemerkenswert. Sie liest sich wie ein Who’s who des seriösen Journalismus. Die meisten der Gesuchten sind mutige Reporter, von der Rechten wie von der Linken, sie alle haben über Korruption, Machtmissbrauch und den Niedergang der Demokratie recherchiert“, erklärt Yavuz Baydar im Feuilleton der SZ. Eine Einschätzung von Amnesty International hat die Tagesschau. +++

+++ Passend dazu (bzw. eben nicht) hat gestern Abend die ARD ein Exklusiv-Interview mit Recep Tayyip Erdogan geführt bzw. ausgerechnet von BR-Chefredakteur Sigmund „schlechtester ,Brennpunkt’-Moderator aller Zeiten“ Gottlieb führen lassen, was bereits die übliche Häme (@niggi, Walter Bau @Hamburger Abendblatt) nach sich zog. „So vorsichtig Sigmund Gottlieb fragt: Im ARD-Interview muss er Erdogan nur reden lassen, um alles über ihn zu erfahren“, steht hingegen schon im Teaser von Michael Hanfelds Rezension bei faz.net. +++

+++ „Nach einer Reihe von Veröffentlichungen, die nach anderen Maßstäben durchaus preisverdächtig gewesen wären, die man aber im russischen Kontext kaum anders denn als tollkühn bezeichnen kann, stand in den Büros des Investors die Steuerfahndung vor der Tür. Das Portal selbst hatte einen Betrugsprozess am Hals, die dreiköpfige Chefredaktion musste gehen.“ Martin Krohs bei Zeit Online über den Fall des russischen Investigativ-Portals RBC. +++

+++ Mit den weiterhin unbekannten Honoraren der Fernseh-Fußball-Experten hadert Joachim Huber heute im Tagesspiegel. „Wer Milliarden im Zwangsverfahren einnimmt, aber verschweigt, wie er die Millionen ausgibt, der handelt zwanghaft falsch. Es geht um Geld, mehr noch, es geht um Glaubwürdigkeit.“ +++

+++ Zudem im Tagesspiegel: „,Die Abschaffung der Anonymität führt daher nicht automatisch zum Verschwinden von Hass-Stürmen, sondern möglicherweise gar zu deren Zunahme’, sagte die Soziologie-Doktorandin Lea Stahel.“ +++

+++ Thema der FAZ-Medienseite ist die BBC-Serie „Poldark“. „Poldark’ beginnt heute um 20.15 Uhr auf dem Abokanal Sony TV. Das Programm läuft im Online-Angebot Entertain der Deutschen Telekom, bei Kabel Deutschland, Unitymedia, Magine TV und im Kabelkiosk.“ +++

+++ Marktführer, aber Sender der Alten: Uwe Mantel analysiert bei DWDL die vergangene ZDF-Saison. +++

+++ „In genau diesem Moment wird irgendwo auf der Welt eine Startseite aktualisiert.“ Warum ungefähr jedes deutsche Online-Medium seinen Leser nicht zutraut, sich das selbst zu denken und stattdessen per Störer auf diesen Fakt hinweist, beschreibt Stefan Niggemeier bei Übermedien. +++

+++ Auch das ist gestern im Internet passiert: Ein Blogger hat sich das Leben genommen, mit Ansage über Twitter und in seinem Blog, und das Netz hat ihn erst gesucht und dann betrauert. Hashtag #wirfuerhannes. +++

Das nächste Altpapier erscheint am Mittwoch. 

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