"Mein Kaffee, mein Gott und ich"

Kaffeekanne mit Kaffeetasse
Karl Fredrickson/Unsplash
Eine Liturgie zum morgendlichen Kaffee? Pfarrer Steve Kennedy Henkel hat ein Buch über zeitgemäße Rituale geschrieben.
Pfarrer über Alltagsrituale
"Mein Kaffee, mein Gott und ich"
Pfarrer Steve Kennedy Henkel hat sich auf die Suche nach zeitgemäßen Alltagritualen gemacht und wurde fündig. In seinem Buch "Rituale für Hipster & Heilige und alles dazwischen" hat er seine Entdeckungen aufgeschrieben. Welche Rolle darin Kaffee oder Gin Tonic spielen, verrät er im Interview.

evangelisch.de: Wie sind Sie auf die Idee gekommen, ein Buch über Rituale zu schreiben, insbesondere im Kontext der heutigen Hipster-Kultur?

Steve Kennedy Henkel: Ich hatte schon immer einen Hang zu Ritualen, aber nach einer Depression haben mir meine Alltagsrituale sehr geholfen, wieder auf die Beine und in eine Lebensstruktur zu kommen. An dem Punkt hat ein Freund zu mir gesagt: 'Da musst du mal ein Buch draus machen!'

Dann habe ich erstmal die Rituale zusammengetragen, die ich selbst schon hatte. Ich habe auch alte Rituale gesucht und sie so geschrieben, wie ich sie in meiner Generation feiern würde und dann habe ich noch Rituale ergänzt, die ich mir an bestimmten Punkten im Leben gewünscht hätte. So ist ein großer bunter Mix draus geworden von einem Gebet beim ersten Kaffee am Morgen, ein Fuck-up-Prayer oder ein Segen für den Einzug in eine neue Wohnung. Gleichzeitig ist aber auch viel Platz für eigene Worte oder auch, um seine eigenen Rituale zu entwickeln.

In Ihrem Buch sprechen Sie über die Vielfalt von Ritualen, von alltäglichen bis hin zu spirituellen. Was denken Sie, motiviert Menschen dazu, Rituale in ihr Leben zu integrieren?

Steve Kennedy Henkel: Eine Sehnsucht nach Ritualen gibt es überall. Auf Instagram wird einem erzählt, wie man sich am besten ein Einschlafritual antrainiert, damit man abschalten kann und gut durch die Nacht kommt, Amazon ist voll mit Büchern für Rituale mit Kindern und Leute erzählen mir, mit welcher Yoga-Routine sie in den Tag starten. 

Besonders Millenials und GenZ, also eine Generation, die selbst kaum noch traditionellen Rituale kennengelernt hat, sind sehr offen für Rituale. Wir sind eine der freisten Generation, die es je gab. Wir können alles werden – wenn wir uns nur anstrengen, aber eins müssen wir werden: glücklich. Und wenn wir das nicht werden, dann sind wir selbst Schuld, denn die meisten von uns können es nicht mehr auf den Beruf oder die Ehe schieben, in die die Eltern oder die Gesellschaft uns gezwungen haben. So viel Freiheit kann ganz schön überfordernd sein, sie macht manchmal auch einsam oder hilflos. Hier machen Rituale einen Unterschied. Ich erlebe jeden Tag etwas ganz bewusst und das gibt mir Struktur, einen Rahmen, das Ritual wird ein Zuhause im Alltag.  Besonders in einer Welt voller Krisen ist ein Ritual ein Safe-Space, zu dem ich immer wieder zurückkommen kann.

"Besonders Millenials und GenZ, also eine Generation, die selbst kaum noch traditionellen Rituale kennengelernt hat, sind sehr offen für Rituale"

Können Sie einige Ihrer persönlichen Lieblingsrituale teilen und erklären, warum sie für Sie bedeutsam sind?

Steve Kennedy Henkel: Besonders gerne mag ich die Kaffee- & Kosmos-Liturgie. Das ist einfach ein kurzes Gebet beim ersten Kaffee am Morgen, das ein bisschen an das Chaos am ersten Tag der Schöpfung erinnert. Bevor der Tag, mit allem, was er von mir will, auf mich einbricht, sammele ich mir da nochmal allein und still, mein Kaffee, mein Gott und ich: 

Gott öffne mir mein Herz und meinen Verstand, wie sich der Tag vor dir öffnet.

Am Morgen der Welt lag alles im Chaos. Du hast Ordnung gebracht, die Leben erst möglich macht. 

Komm jetzt auch in meinen Morgen und hilf mir, meinem Tag Struktur zu geben.
Ordne das Meer meiner Gefühle, dass ich Land sehen kann.

Lichte den Nebel meiner Gedanken, dass ich Klarheit bekomme.

Geh' über meiner Seele auf, wie die warme Sonne am Morgen.

Und besonders gerne mag ich die Gin-Tonic-Liturgie, zu der mich eine katholische Kollegin inspiriert hat und die ich für den Gründonnerstag geschrieben habe. Ein Abend, der sehr gut zum bittersüßen Geschmack von Gin Tonic passt.

Pfarrer Steve Kennedy Henkel

Wie sehen Sie die Rolle von Ritualen in einer zunehmend digitalisierten Welt, in der viele traditionelle Praktiken verloren zu gehen scheinen?

Ich bin mir nicht sicher, ob es an der Digitalisierung liegt, dass viele Rituale verloren gehen. Gerade auf Instagram teilen viele Well-being- und Achtsamkeits-Influencer ihre Rituale. Und ich kenne auch Gruppen, die sich zum christlichen Meditieren via Zoom treffen.

Ich glaube viele Rituale sind einfach verloren gegangen, weil sie den Bezug zum Leben verloren haben. Zum Beispiel das alte katholisches Ritual der Barbara-Zweige: Am 4. Dezember (am Barbara-Tag) wurden Zweige von Obstbäumen geschnitten und zu Hause ins Wasser gestellt. Durch die Wärme im Haus haben die Zweige zu Heilig Abend zu blühen begonnen. Ein schönes kleines Weihnachtswunder. Heute können wir ganzjährig frische Blumen in die Wohnung stellen und an Weihnachten ist sowieso meistens alles überdekoriert, solche Zweige würden gar nicht auffallen, sind nichts Besonderes mehr.

Im Buch sind daher Rituale, die ich entweder auf heutiges Leben hingeschrieben habe – wie die Glühwein Liturgie oder Fasten-Impulse fürs Joggen in der Zeit vor Ostern – oder die für mich immer noch aktuell sind, die ich aber etwas angepasst habe – wie den Segen beim Einzug in eine neue Wohnung oder einen "Danke, dass du da warst"-Segen für Verstorbene.

"Ich glaube viele Rituale sind einfach verloren gegangen, weil sie den Bezug zum Leben verloren haben"

Haben Sie während Ihrer Recherche ungewöhnliche oder überraschende Rituale entdeckt, die Sie besonders fasziniert haben?

Bei der Suche hat mich überrascht, dass das Standard-Buch mit katholischen Segensvorlagen etwa eine Segnung für die Einweihung einer neuen Bank-Filiale oder einer Kläranlage hat – inklusive Vorschläge für biblische Lesungen. Als das Buch raus kam, habe ich bei Instagram gefragt, was für Rituale es noch geben sollte. Da wurde zum Beispiel ein Ritual für die Zigarette danach, ein Hängematten-Ritual oder ein Dankgebet für die Innenseite der Kühlschranktür für diejenigen, die am offenen Kühlschrank essen, vorgeschlagen. 

Inwiefern können Rituale dabei helfen, Sinnhaftigkeit und Struktur in das Leben einer Person zu bringen, insbesondere in Zeiten von Unsicherheit und Veränderung? 

Ich denke, dass die Taktung von allem, was unseren Kopf in Anspruch nimmt, viel enger geworden ist. E-Mails und Arbeit sind sowieso via Handy immer mit dabei und noch an der roten Ampel holen viele von uns das Smartphone für den nächsten Dopamin-Kick von Instagram oder Tiktok raus. Unser Tag ist voll von Routinen, die uns eigentlich nicht guttun, weil sie unseren Kopf oder unser Herz immer unter Spannung halten. Wenn ich bewusst Rituale in mein Leben einbaue, kann mir das helfen, Routinen zu durchbrechen, dir mir eigentlich gar nicht gut tun. Und dann ist es ja auch psychologisch erwiesen: Rituale geben Stabilität im Leben und im Alltag, und größer gedacht auch in einer Gesellschaft.

Glauben Sie, dass es eine Verbindung zwischen der Suche nach Authentizität und dem Aufkommen neuer Formen von Ritualen, wie sie von vielen in der Hipster-Kultur praktiziert werden, gibt?

Ja, ich glaube da gibt es eine Spannung. Einerseits gibt es eine Suche nach dem eigenen, authentischen Selbst und sich damit aber auch irgendwo äußerlich-objektiv einordnen zu können, seien es Sternzeichen, Persönlichkeitstests wie Meyer-Briggs oder das Introvertiert/Extrovertiert-Schema. Gleichzeitig lehnen viele allgemeinverbindliches Objektives ab. Das eigene Empfinden zählt für manche mehr als objektive Wahrnehmungen. Und die eigene Lebensgestaltung muss nah an meinem Empfinden sein, das sehen wir zum Beispiel auch bei Essgewohnheiten. Für manche ist es geradezu identitätsstiftend, dass sie vegan leben, für andere, dass sie unbedingt ein Schweineschnitzel essen müssen. Das wirkt sich auch auf die Rituale die aus, die Menschen suchen, da wird erst geprüft: Passt dieses Ritual in mein Leben als extrovertierter, veganer ESTJ-Steinbock?

Grundsätzlich finde ich es auch legitim, dass Menschen nach Ritualen suchen, die zu ihrem Leben passen – genau dafür habe ich das Buch ja auch geschrieben! Manchmal mache ich mir nur sorgen, ob es jenseits der individuellen Rituale, noch genug verbindende Rituale gibt, hinter denen wir uns als Gesellschaft versammeln können oder ob unsere Wirklichkeitswahrnehmungen und eigenen kleinen Welten schon so auseinandergefallen sind, dass wir uns untereinander gar nicht mehr richtig verstehen und kaum noch Empathie füreinander aufbringen. Aber das wäre mal ein Thema für ein anderes Buch.

Rituale für Hipster & Heilige und alles dazwischen: Gin-Tonic-Liturgie, Barista-Gebete & Bike-Segen, Steve Kennedy Henkel, Neukirchener, 2022, Gebundene Ausgabe, 18 Euro.