Diakonie-Chefin warnt vor schlechterem sozialen Klima

Bewohnerin im Rollstuhl
© epd-bild/Tim Wegner/Tim Wegner
Eine Bewohnerin im Rollstuhl auf dem Flur im Altenpflegeheim. Im Interview mit dem epd spricht Annette Noller über die Konsequenzen der Kürzungen im Sozialbereich. (Symbolbild)
Kürzungen im Haushalt 2024
Diakonie-Chefin warnt vor schlechterem sozialen Klima
Sie vertritt 1.400 Einrichtungen und Dienste in Württemberg, die über 270.000 Menschen betreuen: Oberkirchenrätin Annette Noller ist Vorstandsvorsitzende des Diakonischen Werks Württemberg und Expertin für Sozialpolitik. Im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd) erklärt sie, welche Konsequenzen Kürzungen im Sozialbereich für die Gesellschaft haben, warum Mitarbeitende in der Diakonie nicht immer evangelisch sein müssen und was ihr für 2024 Hoffnung macht.

epd: Frau Dr. Noller, die Bundesregierung muss Kürzungen im Haushalt 2024 vornehmen. Ist inzwischen klar, in welchen Bereichen das die Diakonie treffen wird?

Annette Noller: Die gute Nachricht ist aus unserer Sicht: Die angedachten Kürzungen etwa in den Bereichen Freiwilligendienste und Migrationsberatung werden so wahrscheinlich nicht kommen. Auch die Kindergrundsicherung und das Bürgergeld, die öffentlich kontrovers diskutiert wurden, werden wohl bleiben. Hätte es solche Kürzungen gegeben, wären wichtige Dienste gefährdet gewesen, die zum Zusammenhalt der Gesellschaft beitragen. Allerdings wird es beim Kostenersatz auch keine Steigerung geben. Außerdem wissen wir nicht, wie die Zahlen konkret aussehen, darüber wird erst in einer Haushaltsbereinigungssitzung des Bundestags im Februar entschieden. Es bleibt eine Planungsunsicherheit, etwa für Migrationsdienste und Demokratie-Bildung, sofern sie aus Bundesmitteln finanziert werden. Es besteht die reale Gefahr, dass wir, weil die Finanzierung nicht geklärt ist, Anfang des Jahres einzelne Dienste zum Beispiel in der Migrationsberatung werden schließen müssen. Auch bei anderen Verbänden werden Schließungen wegen der Planungsunsicherheit befürchtet.

Welche konkreten Auswirkungen haben fehlende Mittel denn für unterstützungsbedürftige Menschen und für die Gesellschaft insgesamt?

Noller: Das soziale Klima könnte sich nochmals verschlechtern, weil Menschen, die Unterstützung benötigen, nicht ausreichend Unterstützung erhalten können. Nehmen wir ein positives Projekt wie die Schreibwerkstatt, die Menschen beim Ausfüllen von Formularen unterstützt, zum Beispiel von Hilfeanträgen. Menschen nehmen an dieser Werkstatt teil, bis sie die Dokumente eigenständig ausfüllen können. Ohne dieses Angebot bleiben viele von ihnen unversorgt. Wir können auch Menschen, die ins Bürgergeld geraten sind, helfen, wieder in Beschäftigung zu kommen. Da gibt es Unterstützung bei der Suche nach einer Kita oder Entlastung für pflegende Angehörige. Ohne diese Begleitung haben es diese Menschen sehr schwer, wieder in Teilhabe zu kommen und selbstbestimmt zu leben.

"Ohne diese Begleitung haben es diese Menschen sehr schwer, wieder in Teilhabe zu kommen und selbstbestimmt zu leben."

In den vergangenen Monaten haben bundesweit mehrere diakonische Einrichtungen Insolvenz angemeldet. Droht das auch in Württemberg?

Noller: Nein, davon gehe ich nicht aus. Wir haben ein sehr gut aufgestelltes Risikomanagement. Unsere Mitglieder sind verpflichtet, uns jährlich die Jahresabschlüsse zu übermitteln. Wenn in Württemberg ein Träger in eine Notlage gerät, dann gehen wir vom Diakonischen Werk auf ihn zu und bieten Unterstützung an. Sollte es ganz eng werden, können wir auch durch Interimsmanagement und finanzielle Unterstützung helfen. Die Risiken sind natürlich gewachsen - Energiekrise, Tariferhöhungen, Inflation, unzureichende Refinanzierung. Doch wir arbeiten daran, unsere Träger zu halten, und haben das in der Vergangenheit auch geschafft.

Auch der Fachkräftemangel bedroht soziale Einrichtungen. Rechnen Sie im kommenden Jahr mit Schließungen, weil nicht genügend ausgebildete Mitarbeiter zur Verfügung stehen?

Noller: Wir versuchen, gegenzusteuern, haben allerdings auch bei uns die Situation, dass zum Teil Stationen mangels Pflegekräften nicht voll belegt werden können. So schauen wir uns noch einmal genauer an, wie wir die Menschen im Team besser nach ihren Kompetenzen einsetzen können. Auch die Digitalisierung wird Pflegekräfte entlasten. Außerdem haben wir ein internationales Ausbildungsprojekt. Es fing im Kosovo an und wird jetzt unter anderem in Marokko und Tunesien fortgesetzt. Dort suchen wir nach geeigneten Frauen und Männern für die Pflege und wahrscheinlich auch bald für andere Bereiche und bereiten Sie vor Ort schon mit Sprachkursen auf die Ausbildung in Deutschland vor. Viele von ihnen bleiben für ein paar Jahre und sind gut integriert. Das ist ein Erfolgsprojekt.

" Wir haben ein internationales Ausbildungsprojekt. Es fing im Kosovo an und wird jetzt unter anderem in Marokko und Tunesien fortgesetzt."

Wir leben in einer Zeit der Selbstoptimierung. Geht uns dabei die gesellschaftliche Solidarität verloren?

Noller: Ja, und das bereitet mir viele Sorgen. Wir beobachten seit der Jahrtausendwende einen grundlegenden Wandel in der Gesellschaft. Ein Teil der Menschen lebt in prekären Situationen, dieser Anteil wächst. Gleichzeitig stehen zwei Drittel der Gesellschaft zunehmend unter Leistungsdruck, um ihren Lebensstandard zu halten. Jeder lebt in dem Gefühl, sich selbst optimieren zu müssen, um nicht zu den Menschen in prekären Situationen zu gehören. Ich würde mir wünschen, dass ein biblisches Grundprinzip, nämlich dass eine Gesellschaft vom Zusammenhalt lebt, wieder mehr Geltung bekommt. Dass wir also weniger so leben müssen, dass wir uns optimieren, sondern dass wir so leben, dass unser Miteinander in der Gesellschaft jeden Einzelnen trägt. Dass die Bereitschaft wieder stärker wird, in Krisen einander zu tragen und miteinander zu teilen. Das optimiert das Zusammensein und nicht nur den Einzelnen.

Andererseits gab es doch viel Solidarität, als 2015 und danach eine große Zahl von Flüchtlingen nach Deutschland kam. Sind wir nicht weiterhin eine sehr solidarische Gesellschaft?

Noller: Wenn ich die Debatten zum Bürgergeld anschaue, bemerke ich: Es hat sich etwas verändert. Der Erfolg von Parteien am rechten Rand zeigt eine zunehmende Zahl von Wählern und Wählerinnen, die beim Thema Solidarität anders denken. Die Überzeugung, dass gemeinsames Tragen die Gesellschaft verbessert, muss jeden Tag neu erarbeitet werden. Zudem würde ich mir wünschen, dass die Menschen, die besonders viel besitzen, mehr Bereitschaft zeigen, davon abzugeben. Gemeinsam geht’s besser.

"Die Überzeugung, dass gemeinsames Tragen die Gesellschaft verbessert, muss jeden Tag neu erarbeitet werden."

Im Internet kursieren immer wieder Modellrechnungen, wonach sich Arbeiten gehen für Menschen in niedrigen Lohngruppen kaum mehr lohnt. Ist das Bürgergeld zu hoch?

Noller: Nein. Das hat das Bundesverfassungsgericht bestätigt, dass ein Existenzminimum zu gewähren ist, das ein menschenwürdiges Leben ermöglicht. Schauen Sie sich die Zahlen an: pro Tag 6,51 Euro für Lebensmittel, monatlich 19 Euro für Gesundheit und Pflege, 41 Euro für Bekleidung und Schuhe. Wenn Sie da einen neuen Wintermantel brauchen oder die Waschmaschine reparieren lassen müssen, sind Sie ganz schnell am Ende. Das Problem mit dem Abstand zu den Arbeitenden entsteht durch die hohen Mieten. Denn jeder Bürgergeldempfänger erhält die Kosten für Unterkunft und Heizung. Allerdings nur in angemessener Höhe - wer in einer zu großen oder zu teuren Wohnung lebt, muss nach einer Karenzzeit von einem Jahr ausziehen. Die Lohnempfänger müssen ihre Miete selbst bezahlen. Durch die hohen Mieten verringert sich der Abstand, das bedeutet aber nicht, dass das Bürgergeld in seiner jetzigen Höhe schon auskömmlich wäre.

Diakonische Einrichtungen sind ohne die Mitarbeit von Menschen, die keinen christlichen Hintergrund haben, nicht mehr arbeitsfähig. Wie stark ist ihr Anteil?

Noller: Wir haben in den großen diakonischen Einrichtungen bereits 20 bis 30 Prozent an Mitarbeitenden, die keiner Kirche angehören. In den Leitungsgremien muss allerdings laut unserer Satzung weiterhin der evangelische Einfluss bestimmend sein. Bei Organisationen in kirchlicher Trägerschaft, etwa Diakonischen Bezirksstellen, Kreisdiakonien und Diakonie-Sozialstationen, gilt die ACK-Klausel. Wer dort mitarbeitet, muss möglichst der evangelischen Kirche angehören oder zumindest einer Kirche, die in der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen (ACK) ist.

Wie kann eine Einrichtung evangelisch sein, wenn ihre Mitarbeiter es nicht sind?

Noller: Das kann sie sehr gut. Die Kultur einer Einrichtung basiert einerseits auf den Mitarbeitenden, andererseits auf den Rahmenbedingungen der Organisation. Leitbilder, Satzungen und Onboarding-Kurse für neue Mitarbeiter erklären, was eine evangelische Einrichtung ausmacht. Natürlich haben wir weiterhin Gottesdienste und Andachten, viele unserer Sitzungen hier im Haus beginnen mit einer kleinen Besinnung. Wir feiern die christlichen Jahresfeste. Und wir reflektieren über aktuelle ethische Herausforderungen, zum Beispiel den assistierten Suizid.

"Die Kultur einer Einrichtung basiert einerseits auf den Mitarbeitenden, andererseits auf den Rahmenbedingungen der Organisation. Leitbilder, Satzungen und Onboarding-Kurse für neue Mitarbeiter erklären, was eine evangelische Einrichtung ausmacht."

Was macht Ihnen fürs neue Jahr Mut? Und was macht ihnen Sorge?

Noller: Sorge macht mir das Erstarken von populistischen Strömungen, die den Zusammenhalt und auch den demokratischen Staat infrage stellen. Ich wünschte, dass alle Menschen, die zur Wahl solcher Parteien neigen, sich klarmachen, dass sie damit nicht nur protestieren, sondern damit möglicherweise die Schwächsten der Gesellschaft noch weiter schwächen. Was mir Mut macht: Wir sind eine Gesellschaft mit vielen Ressourcen, wir sind eine starke Demokratie, wir haben viele Menschen, die sich sozial sehr engagieren, wir haben viele zukunftsweisende Projekte und Möglichkeiten. Wir dürfen nicht nachlassen, an uns zu glauben und mit Gottes gutem Geist auch neue Wege zu gehen und Schwierigkeiten zu bewältigen.