Mission soll sich eigener Schuld stellen

apua-Aktivisten mit Gesichtern, die mit den Farben der separatistischen ´Morning Star-Flagge bemalt sind
© Tatan Syuflana/AP/dpa
Missionstheologie muss sich ihren kolonialen Verstrickungen stellen. Diese Papua-Aktivisten demonstrieren gegen Indonesien, die West Papua 1963 von der niederländischen Kolonialherrschaft abgelöst haben. In der östlichen Hälfte der Insel Papuas waren im Deutschen Kaiserreich deutsche Missionare und Unternehmen aktiv. Viele Exponate in Kunst- und Völkerkundemuseen zeugen davon. (Archivbild von 2022)
Blog zu Dekolonialisierung
Mission soll sich eigener Schuld stellen
Missionstheologie kann zu Dekolonisierung beitragen – aber sie muss sich ihren kolonialen Verstrickungen stellen. Was das konkret bedeuten kann, erklärt Eckhard Zemmrich und plädiert für die Chancen, die eine sich weltweit austauschende Missionstheologie kreieren kann.

Christliche Mission soll sich klar bekennen zur eigenen Schuldverstrickung in koloniales Denken und Handeln – und sie tut es: Schuldbekenntnisse, Rückgabe von Raubgütern, finanzielle Leistungen durch Missionswerke und Kirchen – all das ist Ausdruck der Einsicht in solche Verstrickung. Doch reicht das aus? Nein, sondern das, was christliches Denken und Handeln in kolonialer Weise prägte und ermöglichte, das muss erkannt und durchschaut werden. Damit auf dieser Basis tatsächlich neues Denken und Handeln wachsen kann. Solche kritische Erkenntnis leistet aus innerchristlicher Perspektive Missionstheologie.

Missionstheologie wird weltweit betrieben, auch und gerade in Kontexten, die von leidvollen Erfahrungen und Nachwirkungen kolonialer Machtentfaltung geprägt sind. Diejenigen, die Missionstheologie betreiben, stehen in nationalen und internationalen Fachgesellschaften auch in weltweitem Austausch. Sie ergänzen sich in missionstheologischen Entwürfen und der Auslegung des biblischen Zeugnisses vor dem Hintergrund der eigenen Schulderfahrung zur Überwindung kolonialen Denkens und Handelns heute.

Konstruktive Ansätze schützen vor kolonialen Formen

Missionstheologie trägt so zu einer nachhaltigen Dekolonisierung bei – sie begeht also nicht den Fehler, die westlich dominierten Kolonialprojekte auf immer für einmalig zu halten. Was der jüdische Schriftsteller Primo Levi zum Holocaust sagte, ohne diesen selbst zu relativieren: "Es ist geschehen, und folglich kann es wieder geschehen." Das gilt in anderer, aber ähnlicher Weise auch für die menschenfeindliche, destruktive Logik kolonialer Praxis – sie wurde geübt und wirkt nach, sie wird geübt, und sie kann sich, wo und in welcher Gestalt auch immer, neuformieren. Deshalb ist es so wichtig, sich mit Grundlagen kolonialer Theorie und Praxis auseinanderzusetzen und zu neuen konstruktiven Ansätzen zu kommen, wie dies auf ihre Weise Missionstheologie tut. Denn Dekonstruktion allein, so wichtig sie ist, reicht nicht aus, um Destruktion zu überwinden. Die Kraft kann sich nur entfalten, wenn es wirklich starke Neuorientierungen gibt, neue Visionen, die es mit den alten an Intensität und Motivationskraft aufnehmen können.

Missionstheologie als Mittel der Differenzierung

Doch was heißt das konkreter? Welche Perspektiven bringt Missionstheologie in das Bemühen um nachhaltige Dekolonisierung und Neuorientierung ein? Ich wähle drei Aspekte aus, die mir besonders wichtig scheinen: Zum einen widersteht christliche Missionstheologie der Versuchung, Schwarz-Weiß zu malen. Sie trägt in ihrer Forschung so zu einer Differenzierung bei, die das Bemühen um Dekolonisierung davor bewahrt, unterkomplex zu bleiben und damit die eigenen Ziele zu verfehlen. Solche Differenzierung drückt sich in historischen Untersuchungen missionarischer Theologie und Praxis aus.

Diese lässt sich nämlich nur als in Bausch und Bogen kolonialistisch abstempeln, wenn man sich nicht die Mühe macht, genauer hinzuschauen sowie die Vielschichtigkeit anzuerkennen und in die Analysen einzubeziehen, die sich dabei zeigt: die Vielschichtigkeit, die sich etwa durch die Gleichzeitigkeit folgender Phänomene ergibt: fromme Christgläubigkeit und der Wunsch, andere Menschen dafür zu gewinnen, ein Selbstbild kultureller Überlegenheit, konkrete Gesundheitsfürsorge und pädagogisches Engagement in all ihrer Ambivalenz, Faszination und der Ablehnung des Fremden genauso wie Achtung vor und Sympathie für das Fremde, in dessen Einflusssphäre die Missionar:innen selbst lebten. Christliche Missionstheologie kann sich bei alldem auf das biblische Zeugnis stützen, in dem Menschen in ihrer Vielschichtigkeit und Ganzheitlichkeit von Gott einerseits wahr- und angenommen, andererseits aber auch zu Umkehr und Neuorientierung gerufen werden.

Missionstheologie als Mittel gegen Illusion

Zum anderen hilft christliche Missionstheologie – und das steht mit dem vorigen in engem Zusammenhang –, der Illusion nicht zu erliegen, es gäbe eine selbstverständliche und ungefährdete Makellosigkeit des eigenen, gegenwärtigen Denkens und Handelns in klarer Abgrenzung zu Vorherigem. Vielleicht wird in einhundert Jahren über heutige Dekolonisierungs-Diskurse in einer Weise kritisch geurteilt, die wir selbst nur von dem eigenen Umgang mit dem kennen, was heute vor einhundert Jahren stattgefunden hat? Jedenfalls gibt es auch in heilsamen Umbrüchen des Denkens Kontinuitäten dessen, was überwunden werden soll. Missionstheologie kann diese bleibende Verflechtung mit der zu dekonstruierenden Vergangenheit durch starke Glaubensaussagen zum Ausdruck bringen: Der Sieg des Lebens, das die Liebe ist, den christlich Glaubende mit dem Bekenntnis zum auferstandenen Christus bezeugen, dieser Sieg des Lebens ist ein Sieg durch den Tod hindurch.

Und das neue Leben bleibt von diesem Durchgang durch den Tod gezeichnet. Das wird deutlich an den Wundmalen, die in den Begegnungserzählungen der Bibel auch der auferstandene Christus weiterhin trägt. Dem entsprechend liegt missionstheologisch der Fokus nicht auf einmaliger Bekehrung und "Wiedergeburt" im Glauben, sondern auf dem täglichen Ringen, der täglichen Umkehr und dem täglichen Neuanfang, der erst das Denken, Reden und Handeln des eigenen Glaubens glaubwürdig macht. Und der auch solch illusionslose Hoffnung auf eine Überwindung kolonialer Denk-, Sprach- und Handlungsmuster stärken kann.

Missionstheologie als Mittel echter Verständigung

Ein dritter Punkt betrifft eine grundlegende Überzeugung, die in jeder Missionstheologie zum Ausdruck kommt: Dass Verständigung zwischen unterschiedlichen Kontexten und kulturellen Prägungen möglich ist. Christliche Mission lebt von der Gewissheit, dass die Übersetzung der Botschaft vom Sieg des Lebens, das die Liebe ist, kulturelle, politische, soziale und gesellschaftliche Grenzen überwinden kann. Dass diese Botschaft überall heimisch werden und Menschen zu lebendigem, liebevollem und gleichberechtigtem Umgang miteinander befreien kann – und dass das Gespräch, die Verständigung darüber über die genannten Grenzen hinweg möglich ist und bleibt.

Diese Grundüberzeugung von der Möglichkeit und Wirklichkeit echter Verständigung in Dekolonisierungsdiskurse einzutragen und zu entfalten, dabei die Verflechtung gegenwärtiger Perspektiven mit den kritisch zu bearbeitenden immer wieder bewusst und sich für Differenzierung in der historischen Analyse stark zu machen – dies sind drei Beiträge aktueller Missionstheologie, die sie in Dekolonisierungsdebatten eintragen und die sie damit nachhaltiger machen kann. Missionstheologie stärkt damit Dekolonisierung in einer möglichst illusionslosen Hoffnung auf Heilung und Gerechtigkeit in unserer von so viel Verletzung und Ungerechtigkeit zerklüfteten, aber dennoch einen Welt.

evangelisch.de dankt der Evangelischen Mission Weltweit und mission.de für die inhaltliche Kooperation.