Holocaust-Pädagogik heute

Foto: dpa/Patrick Pleul
Schüler vor der Gedenkstätte und Museum Sachsenhausen.
Holocaust-Pädagogik heute
Kein Schüler verlässt die Schule, ohne etwas über den Holocaust erfahren zu haben. Doch wie lassen sich diese Themen heute noch angemessen vermitteln?

Der 16-jährige Albert Jäger hat im vergangenen Jahr an einem deutsch-israelischen Jugendaustausch teilgenommen. Dabei stand bei der Hinreise der Besuch der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem auf dem Programm. Im Raum der Seelen, im Raum der Kinder, brennen fünf elektrische Lichter in einem Raum voller Spiegel. "Der Raum ist stockduster und man sieht nur die Lichter und man hört sphärische Klänge und dabei werden die Namen von Opfern vorgelesen. Das ist gut gemacht", erinnert sich der Berliner Schüler.

Emotionale Momente sind das eine, fundierte Geschichtsaufarbeitung das andere. So begann die deutsche Jugend-Gruppe in Vorbereitung ihrer Israelreise damit, nach der eigenen Familiengeschichte zu fragen. Wie haben eure Großeltern und Ur-Großeltern gelebt? Was haben sie gemacht? Sie sollten Dokumente von zu Hause mitbringen: Fotos, Briefe, Orden, was auch immer sie finden konnten. Daraus entwickelten sich tiefgehende Momente, denn es stellte sich heraus, manche Familien hatten einen Täter-, andere einen Opferhintergrund. Allen Schülern wurde unmittelbar klar, dass sie in irgendeiner Weise mit der dunkelsten deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts verbunden waren. Die meisten lernten ihre Geschichte erst kennen, als sie anfingen, direkte Fragen zu stellen.

Diese Methode unterstützt auch Noa Mkayton von der Internationalen Schule für Holocaust-Studien an der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem. Sie bildet hier Lehrer in moderner Holocaust-Pädagogik aus. Auch deutsche Lehrer-Gruppen sind hier zu Gast. Sie selbst ist in Bayern zur Schule gegangen. Sie erinnert sich noch, wie die Lehrer der '68er-Generation von ihnen als Jugendlichen Betroffenheit abverlangt haben. Heute sei man dagegen in einer neuen Ära des Unterrichtens angekommen, in der man viel stärker versuche die Realität der Lernenden einzubeziehen.

"Geschichte hat keine Wertigkeit. Es ist nicht per se wichtiger sich mit der Geschichte eines Shoah-Opfers auseinanderzusetzen als mit seiner eigenen Geschichte. Deine eigene Geschichte, sei sie deutsch, bosnisch oder türkisch ist genau so wichtig. Auf der anderen Seite bedeutet das aber auch, du hast eine Geschichte, du bist mit Geschichte verbunden", sagt Mkayton.

Die eigene Geschichte soll unkommentiert erarbeitet werden. In einem nächsten Schritt würden sich die Schüler dann mit gleichwertig wichtigen Geschichten aus der Shoah befassen.

"Und diese Geschichten bieten wir in einem Format an, das nicht schon vorgefertigt ist wie der berühmte Autorentext in einem Geschichtsbuch. Dort steht: 'die Juden sind, die Juden konnten, sie wurden, sie sollten, sie durften nicht'. Alles in der 3. Person. Was wir erarbeiten sind Ego-Dokumente", verrät Mkayton ihr Konzept.

Es geht um Erinnerungen, Memoiren, Tagebücher, Briefe, Fotos jüdischer Opfer. Daneben werden auch historische Dokumente wie etwa Deportationslisten vorgelegt. Aus diesem Wust müssen die Schüler wie Historiker Geschichte erstellen. Es gehe um narrative Kompetenz. Schüler erleben, dass Geschichte immer auch im Nachhinein konstruiert ist. Das sei eine wichtige Erkenntnis, Quellen kritisch zu sehen. Herauskommen könnten etwa Wandbilder. Die eigene Familiengeschichte wird in Relation gesetzt mit Familiengeschichten aus der Shoah.

Das wurde auch noch einmal beim Gegenbesuch der Jugendlichen aus Tel Aviv deutlich. Deutsche und israelische Schüler standen gemeinsam in der KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen an der Station Z, dort wo heute noch die Verbrennungsöfen stehen. Sie legten Rosen nieder, lagen sich weinend in den Armen.

"Das war wichtig, dass die Israelis sich das mal angucken. Wir haben da auch einen Gottesdienst abgehalten, da wo das Krematorium war, wo man die Juden wirklich verbrannt hat. Und es war schon ziemlich emotional und wichtig", erinnert sich der 16-jährige Albert Jäger.

Balance zwischen Emotionen und Wissensvermittlung

Günther Morsch, Leiter der Gedenkstätte Sachsenhausen, begrüßt, dass unter den jährlich rund 600.000 Besuchern besonders viele Schulklassen und Jugendliche sind. Pädagogen sprechen von der mittlerweile vierten Generation nach dem Holocaust. Aber Morsch weiß durchaus von deb Gefahren des authentischen Ortes. "Weinen bildet nicht", sagt er. Die Gefahr überwältigt zu werden, lauere im KZ an jeder Ecke.

"Gehen Sie in die jüdische Baracke, in die Leichenkeller, in die Revierbaracke. Da haben unsere Pädagogen bei der Fülle an Gefühlen, die hochkommen können, das Problem, noch den historischen Kontext zu vermitteln", sagt Morsch.

In der Gedenkstätte Sachsenhausen sucht man die Balance zwischen Emotionen und Wissensvermittlung. Einerseits gibt es berührende Hörstationen schon am Eingang des rund 40 Hektar großen Geländes, andererseits fordern Schrifttafeln, Lernstationen und PC-Arbeitsplätze in ehemaligen Baracken und Nebengebäuden zum Eigenstudium auf. Vor allem brauche es eine fundierte Vor- und Nachbereitung in den Schulen. Einfach mal so ein ehemaliges KZ besuchen und damit sei alles erklärt, sei kein gelungener Geschichtsunterricht. Auch gebe es in der modernen Pädagogik so etwas wie ein Überwältigungs-Verbot. Betroffenheit könne man nicht von oben herab verordnen. So gebe es immer wieder Lehrer, die eine besondere Erlebnispädagogik erwarteten, etwa dass die Jugendlichen lange auf dem ehemaligen Appellplatz stramm stehen sollen, um ein Gefühl für die Häftlingssituation zu entwickeln.

Neue Freunde

"Das haben die ehemaligen Opfer nicht verdient, dass man ihre Geschichte gebraucht. Jede Choreografie der Gefühle ist eine, die Jugendliche eher zu einer Abwehr führt", warnt Matthias Heyl, pädagogischer Leiter in der benachbarten KZ-Gedenkstätte Ravensbrück. Ein Gedenkstätten-Besuch sei kein Automatismus. Die direkte emotionale Konfrontation allein mache noch keine gelungene Geschichtsaufarbeitung aus. Schüler könnten sich schnell überrumpelt fühlen, sich gar aus Protest mit den Tätern identifizieren.

"Der Wunsch, dass das Lernziel Empathie erreicht wird, diese schnelle Opferidentifikation als Immunisierung gegen Rechtsextremismus und Vorurteile, das funktioniert nicht", weiß Heyl.

Die deutsch-israelische Jugendgruppe scheint nicht in diese pädagogischen Fettnäpfchen getreten zu sein. Neben der emotionalen Berührung gab es auch viel Zeit für die inhaltliche Vor- und Nachbereitung und das gegenseitige Kennenlernen. Der Berliner Schüler Albert Jäger zumindest will so schnell wie möglich wieder nach Israel fahren, um seine neuen israelischen Freunde wieder zu sehen.