"Du siehst mich" - Hagar, Gott und der Kirchentag

Ölgemälde "Landschaft mit Hagar und Engel" von Claude Lorrain (1600-1682).
Foto: akg-images/André Held
Ölgemälde "Landschaft mit Hagar und Engel" von Claude Lorrain (1600-1682).
"Du siehst mich" - Hagar, Gott und der Kirchentag
Der Deutsche Evangelische Kirchentag 2017 steht unter dem Leitwort "Du siehst mich" (1. Mose 16,13). In den drei Worten steckt grundlegende alttestamentliche Theologie. Gleichzeitig greift der Vers aktuelle gesellschaftliche Themen auf.

"Du siehst mich" ist die kürzestmögliche Zusammenfassung von 1. Mose 16,13. Der Bibelvers wird als Überschrift nicht nur über dem 36. Deutschen Evangelsichen Kirchentag vom 24. bis 28. Mai 2017 in Berlin und Wittenberg stehen, sondern auch über sechs "Kirchentagen auf dem Weg", die anlässlich des Reformationsjubiläums in Leipzig, Magdeburg, Erfurt, Jena/Weimar, Dessau-Roßlau und Halle/Eisleben stattfinden.

Am vergangenen Samstag hat das Präsidium des 36. Deutschen Evangelischen Kirchentages über eine Handvoll Bibelverse diskutiert, die eine Exegese-Gruppe als mögliche Losungen vorgeschlagen hatte. Dabei wurde laut Kirchentags-Sprecherin Sirkka Jendis überlegt, welcher Vers am besten zu aktuellen gesellschaftspolitischen Themen passt. Per Abstimmung habe sich das Präsidium schließlich mit breiter Mehrheit für "Du siehst mich" entschieden. 

Gott und Mensch sind Beziehungswesen

Bei der Auswahl des Bibelwortes sei es um die Sehnsucht der Menschen nach "angesehen sein, wahrgenommen werden" gegangen, sagte Kirchentagspräsidentin Christina Aus der Au bei der Vorstellung der Losung am Montag in Berlin. "Diese Sehnsucht ist groß. Dafür schicken wir permanent Bilder von uns selbst in die Welt, per Selfie, Facebook und Whatsapp. Doch wirklich gemeint zu sein - das geht tiefer", ist die Kirchentagspräsidentin überzeugt.

Der Vers stammt aus der alttestamentlichen Geschichte von Sarai, Abram und Hagar. Weil Sarai nicht schwanger wird, so wird erzählt, zeugt Abram ein Kind mit Sarais ägyptischer Magd Hagar. Es kommt zum Konflikt zwischen den beiden Frauen, weswegen Hagar in die Wüste flieht. Dort findet sie der "Engel des Herrn" und es kommt zu folgendem Dialog (1. Mose 16, 8-13, Lutherübersetzung):

Engel: "Hagar, Sarais Magd, wo kommst du her und wo willst du hin?"
Hagar: "Ich bin meiner Herrin Sarai davongelaufen."
Engel: "Kehre wieder um zu deiner Herrin und demütige dich unter ihre Hand. Ich will deine Nachkommen so mehren, dass sie der großen Menge wegen nicht gezählt werden können. Siehe, du bist schwanger geworden und wirst einen Sohn gebären, dessen Namen sollst du Ismael nennen; denn der HERR hat dein Elend erhört. (...)."
Hagar: "Du bist ein Gott, der mich sieht. Gewiss hab ich hier hinter dem hergesehen, der mich angesehen hat."

In dieser Geschichte erfährt Hagar, eine ausgenutzte und abgelehnte Frau in hoffnungsloser Lage, die direkte und ungeteilte Aufmerksamkeit Gottes. Der verlangt zwar etwas Unzumutbares von ihr, nämlich in die schwierige Dreiecksbeziehung zurückzugehen, spricht ihr aber dafür Mut zu. Für Hagar bedeutet schon die Tatsache, dass sie in ihrer Situation wahrgenommen und angesehen wurde, unendlich viel. Ermutigt und in der Gewissheit, nicht allein zu bleiben auf ihrem weiteren Lebensweg, kehrt sie zurück zu Abram und Sarai.

Dröges Wunsch: Ein "Kirchentag voller Aufmerksamkeit"

Die Wendung "Du bist ein Gott, der mich sieht" zeichnet ein Gottesbild, das auf Beziehung gegründet ist. Der Gott, von dem im Alten und Neuen Testament der Bibel die Rede ist, ist kein fernes und unnahbares Wesen, sondern er wendet sich dem einzelnen Menschen zu und gibt sich zu erkennen. Ein Mensch, der sich von Gott gesehen fühlt - von ihm gefunden wird wie Hagar - , fühlt sich wertvoll und geachtet, kann trotz aller Demütigung aufrecht durchs Leben gehen. 

"Von Gott angesehen zu werden, begründet die Würde des Menschen als Gottes Geschöpf", sagte die Generalsekretärin des Deutschen Evangelischen Kirchentages, Ellen Ueberschär. "Sehen stiftet Beziehung, nicht nur mit Gott, sondern auch im Miteinander aller Menschen." Die Geschichte von Hagar werde auch im Koran und im Neuen Testament aufgegriffen, damit sei "Du siehst mich" ein Satz, der "über den biblischen Kontext hinaus auch heute Anerkennung, Wertschätzung und Zuwendung aussagt", betonte Ueberschär.

"Ich wünsche mir einen Kirchentag voller Aufmerksamkeit", sagte Markus Dröge, Bischof der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz, in Bezug auf die Losung, "aufmerksam für Menschen ohne Ansehen, in einer Stadt, in der arm und reich weit auseinanderklafft; aufmerksam auch für diejenigen, die nicht oder anders an Gott glauben, hier im Osten Deutschlands und in einer Stadt voller kultureller und weltanschaulicher Gegensätze; aufmerksam für eine Kirche, die sich ändert, weil sie sich ändern muss." Dröge freut sich darüber, dass der Deutsche Evangelische Kirchentag nach 1951, 1961, 1977, 1989 und 2003 bereits zum sechsten Mal in der Bundeshauptstadt zu Gast sein wird. 

Zusammen mit der Losung zum Kirchentag 2017 hat das Präsidium biblische Texte für Gottesdienste und Bibelarbeiten festgelegt. Auch sie reden vom Sehen und Gesehen-Werden zwischen Gott und Mensch: Für den Festgottesdienst sind Worte aus dem 1. Korintherbrief, "Von Angesicht zu Angesicht" (1. Korinther 13,12), vorgesehen und für die Eröffnungsgottesdienste der Kirchentagspsalm 139, "Deine Augen sehen mich".