Sechste Fastenwoche: Du bist schön!

Sechste Fastenwoche: Du bist schön!
Fastenmail zu Hohelied 1,15–2,3
Das Schöne am alttestamentlichen Hohelied ist, dass es ungewöhnliche Bilder und Vergleiche benutzt, um dem geliebten Gegenüber zu sagen: "Du bist schön."

"Siehe, meine Freundin, du bist schön; schön bist du, deine Augen sind wie Taubenaugen. Siehe, mein Freund, du bist schön und lieblich. Unser Lager ist grün. Die Balken unserer Häuser sind Zedern, unsere Täfelung Zypressen." (Hld 1,15-17)

Liebe Fasten-Freundinnen und -Freunde im Frühling,

seit ich angefangen habe, die Fasten-Mail für diese Woche zu schreiben, habe ich einen besonders hartnäckigen Ohrwurm: "Veronika, der Lenz ist da! Die Vögel singen trallala. Die ganze Welt ist wie verhext, Veronika, der Spargel wächst. Veronika, die Welt ist grün! Drum lasst uns in die Wälder zieh'n! Sogar der Großpapa sagt zu der Großmama: Veronika, der Lenz ist da!" Die Verwandtschaft dieses Liedes mit dem Bibelvers für diese Woche lässt sich nicht leugnen. Beides sind Aufforderungen, in die Natur zu gehen und sich an der Schönheit der und des Geliebten zu erfreuen: die Poesie der Frühlingsgefühle. Das Hohelied der Liebe, aus dem der Text für diese Fastenwoche stammt, ist ein herrlicher Fremdkörper innerhalb der Bibel. Es geht in der Tat um nichts anderes als um leidenschaftliche Liebe zwischen den Menschen. Gott spielt im Grunde genommen nur eine Nebenrolle in diesem Buch, insofern er der Schöpfer all der Schönheit ist, die hier besungen wird.

Und während ich innerlich von Veronika singe, zögere ich zum ersten Mal in diesem Jahr, mir eine geeignete Übung für Sie, liebe Leserin, lieber Leser, auszumalen. Ich habe Sie während der letzten Wochen bereits aufgefordert, nackt vor dem Spiegel Psalmen zu zitieren oder sich besonders heftige Schimpfwörter auszudenken. Soll ich Sie diesmal bitten, sich zu zweit in der Natur auf einem "grünen Lager" anzuhimmeln? Das erscheint mir doch ein wenig zu naheliegend. Und was ist mit denen, die gerade niemanden haben, den Sie anhimmeln mögen? Ich will darum einen etwas weniger offensichtlichen Weg mit Ihnen gehen.

Eine Besonderheit des Hohelieds ist, dass dort immer wieder Bilder verwendet werden, die uns heute als ungewöhnlich, ja sogar merkwürdig erscheinen. Der Vers für diese Fastenwoche enthält zum Beispiel ein solches Bild: "Deine Augen sind wie Taubenaugen." Dieses Bild ist nicht mehr ohne weiteres als Kompliment tauglich. Möchte ich, dass mir jemand sagt, meine Augen seien wie Taubenaugen? Besonders ist auch dieser Vergleich: "Dein Haar ist wie eine Herde Ziegen, die herabsteigen vom Gebirge Gilead." Zunächst mag man entgegnen: Mein Haar ist hoffentlich schöner als Ziegenhaar. Aber das ist ja auch nicht gemeint. Wer dieses Kompliment erfassen will, stelle sich einen sanften Hügel vor, den man aus der Ferne betrachtet und von dem eine große Herde Ziegen herabläuft. Die wogende schwarze Menge, wie sie geschmeidig über kleine Kuppen strömt. Plötzlich wird das Bild tatsächlich schön.

Schön ist an dem Hohelied, dass es solch ungewöhnlichen Bilder und Vergleiche benutzt, um dem geliebten Gegenüber zu sagen: "Du bist schön." Diese drei Worte allein sind nämlich ausgesprochen mager und karg. Sie taugen als Kompliment wenig. Ich stelle mir ein Paar vor, das sich abends fein macht, weil beide noch ausgehen sollen. Wenn sie ihn nun fragt, ob sie ihm gefalle, und er antwortet: "Du bist schön", dann wird sie zu Recht nach mehr verlangen. Komplimente sollten möglichst konkret beschreiben, was genau man schön findet. Und wenn dann noch ein Vergleich hinzukommt oder ein Wort, das ungewöhnlich oder vielleicht sogar ein wenig veraltet klingt, dann horcht die angesprochene Person gleich ganz anders auf. "Steht mir das Kleid?" "Ich mag, wie es deine Beine umspielt."

Achten Sie in dieser Woche einmal darauf, dass Sie das, was sie loben oder wofür Sie Komplimente machen, etwas genauer beschreiben. Schauen Sie genau hin, was Sie schön finden, bevor Sie "schön" sagen. An leichtesten ist es, wenn Sie zunächst mit schönen Dingen oder Pflanzen üben. Es ist Frühling. Bestimmt laufen Sie draußen einer Blume über den Weg oder einem Zweig, der anfängt zu blühen. Bleiben Sie einen Moment lang stehen, und überlegen Sie, was sie an diesem Krokus oder dieser Forsythie besonders schön finden. Wie würden Sie diese beschreiben? Womit sie vergleichen? Suchen Sie nach weiteren Sachen, die Sie schön finden, und beschreiben Sie wiederum, was genau es ist, das Ihr Herz höher schlagen lässt. Dann können Sie sich Ihren Mitmenschen zuwenden. Achten Sie einmal darauf, was besonders schön an ihnen ist, oder auch, was sie tun, das besonders gelungen ist. Dann beschreiben Sie es und werden Sie mutig: Machen Sie solche beschreibenden Komplimente. Sie müssen dabei nicht in lyrische Begeisterung verfallen. Sagen Sie einfach, was genau Ihnen gefällt.

Schließlich setzen Sie sich einmal in Ruhe hin und schreiben Sie ein Liebesgedicht. Stellen Sie sich das Gegenüber genau vor. Wenn Sie lieber ein Gedicht über einen besonders schönen Vogel schreiben möchten, können Sie das auch gern tun, aber schöner noch ist es, sich einen geliebten Menschen vorzustellen. Achten Sie beim Schreiben nicht auf Reime oder Versmaß! Achten Sie vielmehr auf Beschreibungen und Bilder. Nutzen Sie ungewöhnliche und starke Worte und Vergleiche. Schließen Sie ab und an die Augen und malen Sie sich das Gegenüber so genau wie möglich aus. Welches Detail möchten Sie hervorheben? Welchen Zug möchten Sie besonders unterstreichen?

Gehen Sie nicht unbedingt mit dem Vorsatz an Ihr Gedicht, dass Sie es einmal vortragen werden. Es reicht völlig aus, wenn Sie sich selbst deutlich machen, was Sie wie sehr schätzen. Schreiben Sie, streichen Sie durch, ersetzen Sie, vertauschen Sie, probieren Sie! Sie üben sich auf diese Weise in einer der schönsten Künste, zu denen wir fähig sind: Schönes erkennen und dafür einen Ausdruck finden. Und natürlich übt es auch darin, anderen Menschen wirklich schöne Komplimente zu machen. Und ebenso natürlich, wenn Sie es möchten, dann tragen Sie Ihr Gedicht vor.

Ich grüße Sie herzlich – immer noch mit demselben Ohrwurm "Der Poet, Otto Licht, hält es jetzt für seine Pflicht, er schreibt dieses Gedicht…"

Eine blühende Woche!

Ihr Frank Muchlinsky