Die Bibel aus evangelischer Sicht

Zwei junge Frauen lesen in der Bibel.
Foto: iStockphoto/RyanJLane
"Die Heilige Schrift ist ein Kräutlein; je mehr du es reibst, desto mehr duftet es", sagte Martin Luther.
Die Bibel aus evangelischer Sicht
Am letzten Sonntag im Januar feiern Christen in Deutschland den Ökumenischen Bibelsonntag. Im Mittelpunkt steht die Ökumene und damit die gemeinsame Beschäftigung mit der Bibel. Was das Buch der Bücher für evangelische Christen bedeutet, erklärt Ruprecht Veigel von der Deutschen Bibelgesellschaft: In der Bibel erfährt der Mensch, wer er ist, wie es um die Welt und um ihn selbst steht und was ihm sein Schöpfer zu sagen hat.
31.01.2016
Ruprecht Veigel

Im Leben, Sterben und Auferstehen von Jesus Christus zeigt Gott sich als liebender Vater, der den Menschen die rettende Hand entgegenstreckt. Diese freudige Botschaft (griechisch "Evangelium") sollen die Völker der Erde hören. Schon in den ersten Jahrzehnten tragen die Christen die Botschaft und das Buch nach Europa.

Evangelische Entdeckungslust

Doch anderthalb Jahrtausende später verschließt eine mächtig gewordene Kirche in Europa den Gläubigen die Heilige Schrift. Die lateinische Bibel verstehen nur die Gelehrten und nur die Kirche hat das Recht, sie zu deuten. Dem aber widersprechen Martin Luther und andere Reformatoren: Letzte Autorität ist allein die Schrift selbst. Von ihrer Mitte her, dem Evangelium von Jesus Christus, kann jeder Gläubige die Bibel ohne kirchliche Bevormundung ergründen. Diese fröhliche Freiheitsbotschaft schreiben sich die Kirchen der Reformation auf die Fahnen und nennen sich darum "evangelisch". Eine neue persönliche Entdeckungslust ist angesagt: "Die Heilige Schrift ist ein Kräutlein; je mehr du es reibst, desto mehr duftet es", empfiehlt Luther. Eine Möglichkeit die Bibel häppchenweise zu Lesen ist z.B. die tägliche Bibellese mit dem Bibellesplan DEutschen Bibelgesellschaft.

Zuverlässigkeit

Luther weiß allerdings, dass er die Gläubigen zum Bibellesen nur einladen kann, wenn er ihnen eine zuverlässige und verständliche Bibelübersetzung in die Hand gibt. Er benutzt als Vorlage nicht die lateinische Übersetzung der Kirche, sondern die hebräischen und griechischen Urtext-Ausgaben seiner Zeit. Zu Luthers Team gehören auch renommierte Philologen und Historiker. Das Interesse am Historischen wird geradezu das Merkmal der evangelischen Bibelwissenschaften. Die Entdeckung und Auswertung der ältesten biblischen Handschriften schaffen einen verlässlichen Grundtext, den heute die Deutsche Bibelgesellschaft in ihren weltweit genutzten wissenschaftlichen Ausgaben wiedergibt. Fortschritte in den verschiedensten Spezialwissenschaften tragen zu einem breiten Verständnis der biblischen Welt bei. Ein Projekt in diesem Bereich ist Wibilex, ein wissenschaftliches Bibellexikon, das online kostenlos zur Verfügung steht.

Alltagsdeutsch

Luthers Richtschnur bei der Bibelverdeutschung ist die Alltagssprache seiner Landsleute: "...man muss die Mutter im Hause, die Kinder auf der Gassen, den gemeinen Mann auf dem Markt drum fragen, und den selbigen auf das Maul sehen, wie sie reden, und darnach dolmetschen, so verstehen sie es denn und merken, dass man Deutsch mit ihnen redet." Die Lutherbibel wird das große Volksbuch der Deutschen und ein Vorbild für andere Bibelübersetzungen. Die Aufgabe des Bibelübersetzens gewinnt im 19. Jahrhundert in der protestantischen Mission globale Bedeutung. Und da sich Lebenswelt und Sprache der Menschen ständig verändern, stellt sich diese Aufgabe jeder Generation von neuem. So ist heute die Deutsche Bibelgesellschaft als Evangelisches Bibelwerk in Deutschland damit beauftragt, die Lutherbibel zu pflegen und neue, den modernen Bedürfnissen entsprechende Übersetzungen zu schaffen.

Überall preiswert zu kaufen

Erst die Verbreitung durch den Buchdruck macht die Lutherbibel populär. Im Pietismus und weiteren evangelischen Erneuerungsbewegungen wendet sich eine große Zahl von Gläubigen intensiv dem Wort Gottes in der Bibel zu. Die evangelischen Bibelgesellschaften stellen seit dem 18. Jahrhundert mit Hilfe von Spenden und preiswerten Druckverfahren den Armen erschwingliche Bibeln zur Verfügung. Auch dieser Aufgabe widmet sich heute die Deutsche Bibelgesellschaft, wobei sie mit ihrer Aktion Weltbibelhilfe vor allem die Bedürftigen in Afrika, Asien und Lateinamerika im Blick hat. Zusammen mit den regionalen Bibelgesellschaften und anderen Einrichtungen der Bibelverbreitung fördert sie das Bibellesen und die Kenntnis der Bibel in der Öffentlichkeit.

Bildung für alle

Bibellesen setzt ein Grundmaß an Bildung voraus. Schon Luthers Mitstreiter Philipp Melanchthon organisiert ein flächendeckendes evangelisches Schulwesen. Kinder sollen lesen, schreiben und rechnen können, den Katechismus lernen, biblische Geschichten selbst lesen. August Hermann Francke gründet um 1700 vor den Toren Halles ein Waisenhaus, dessen umfassendes Erziehungs- und Bildungskonzept zum Vorbild wird.

Wissenschaft

Unerfahrene und erfahrene Bibellesen erwarten angemessene Verständnishilfen. Schon die ersten Lutherbibeln bieten Einführungen in die biblischen Bücher, Randbemerkungen und Sacherklärungen. Mit der Reformation stehen Theologie und kirchliche Lehre vor neuen Herausforderungen, die Natur- und Geisteswissenschaften gewinnen einen neuen Stellenwert und blühen auf.

Meinungsvielfalt

Je mehr Gläubige sich an der Schriftauslegung beteiligen, desto breiter und bunter wird das Spektrum der Auffassungen. Die Ablehnung eines kirchlichen Deutungs- und Lehrmonopols führt in der Geschichte der evangelischen Kirchen zu großer Meinungsvielfalt und - teils heftigen - öffentlichen Auseinandersetzungen.

Kunst und Kultur

Das Evangelium gilt dem ganzen Menschen; Körper, Geist und Seele sind gleichermaßen angesprochen. Martin Luther liebt die Musik und in seinen Bibeln lässt er mit aussagekräftigen Bildern die Gegenwart der Leser im Licht des Evangeliums deuten. Das Volksbuch Bibel prägt die Kunst und Kultur Deutschlands in einer neuen Breite und Intensität.

 

Dieser Artikel von Ruprecht Veigel, Referent für Bibel und Öffentlichkeit bei der Deutschen Bibelgesellschaft, erschien bereits im September 2012 auf evangelisch.de